Es war ein Dienstag. Genauer gesagt Veilchendienstag, es war keine Schule und hinter uns lag ein buntes Wochenende. Mein Sohn räumte die Spülmachine aus während ich im Wohnzimmer für Ordnung
sorgte, als er plötzlich sagte: „Man könnte sich doch einfach erstechen.“ Ähnliche Aussagen häuften sich in letzter Zeit, überall sah er Mittel und Wege die in irgendeiner Form zum Tod führen
könnten. Weil mir jede abwegig erschien ging ich auch jetzt nur insofern darauf ein: „Ich denke nicht das das geht. Wenn du liest oder hörst das jemand erstochen wurde passiert das doch nie mit
nur einem Messerstich, es ist immer von 18, 26 oder sogar 35 Messerstichen die Rede und bevor mansich das selbst antun könnte würde man durch den Schmerz ohnmächtig. Vermutlich würde man nicht
mal einen Stich wirklich feste hin bekommen.“ Mein Sohn war gerade mit seiner Aufgabe fertig und als er den Raum verlies murmelte er: „Ich würde das eh machen wenn ihr nicht da seid.“
Dieser Satz war einer zu vieel. Der berühmte Tropfen der das Fass zum überlaufen brachte. Ein paar Orte weiter gibt es eine psychotherapeutische Klinik für Kinder und Jugendliche. Ich rief an. Um
mich zu informieren, vielleicht einen Platz in der Tagesklinik zu bekommen. Als die Dame am Telefon nachfragte, brach ich in Tränen aus. Bis zu diesem Punkt war ich beherrscht, klar und
differenziert, aber auszusprechen das mein Sohn an Selbstmord dachte riss mir den Boden unter den Füßen weg. Meine Gesprächspartnerin versuchte mich zu beruhigen, nahm die Situation ernst und
versuchte mich an den psychologischen Notdienst weiter zu leiten. Da die ärztin gerade nicht erreichbar war bot man mir einen Rückruf an. Währenddessen hatte meine Mutter zum Kaffee eingeladen.
Sie wohnt nur ein Stockwerk tiefer, um mich zu beruhigen ging ich runter. Allerdings nicht ohne vorher die Küche abzuschließen damit die Messer nicht erreichbar sind. Unten angekommen setzte ich
mich auf die couch und legte mein Baby ab, meine Mutter sah mich an, wohl merkend das etwas nicht stimmt. Erneut brach ich in Tränen aus und erläuterte ihr schluchzend die Situation, als auch
schon mein Handy klingelte. Meine Mutter nahm das Baby während ich mit der Psychologin sprach. Diese wollte mit meinem Sohn reden, also ging ich zu ihm, sagte kurz und knapp wer dran ist und
reichte ihm das Telefon. Er begann zu weinen, weigerte sich das Telefon in die Hand zu nehmen und verschloss sich, also stellte ich den Lautsprecher ein. Als er immer noch nicht reden wollte
fragte die ärztin ob er zu ihr kommen wolle um dort mit ihr zu reden, er nickte. Auf dem Weg zum Auto schaute ich noch schnell bei meiner Mutter rein um sie zu bitten etwas länger auf den Kleinen
aufzupassen. In der Zwischenzeit war mein Mann mit der Mittleren heim gekommen und saß mit am Kaffeetisch. Ich weinte wieder, dieses Mal nur ein wenig doch er ließ es sich nicht nehmen mir zu
verstehen zu geben meine Reaktion sei überzogen und unnötig, schließlich hätten wir ja nicht ein mal gemeinsam mit dem Kind darüber gesprochen. Ich gehe nicht weiter darauf ein, denn das hätte
nichts geändert. Zum einen weil er die Äußerungen doch selber gehört und nie ernst genommen hatte und zum anderen weil er zu den Menschen gehört denen es ohnehin schwer fällt sich in solche
Gedanken hinein zu versetzen.
So sitzen wir nun im Auto. Mein Sohn und ich. Er ist schlecht gelaunt und vergräbt sich in sich selbst, er ist sauer. Ich versuche beruhigend auf ihn einzureden, er reagiert nicht. Im Wartezimmer
der Klinik setzt er sich extra weit von mir weg. Ich stehe auf und setze mich neben ihn, es ist mir wichtig ihm zu zeigen das ich das hier nicht tue um ihn zu ärgern. Wir sind hier weil er mir
wichtig ist, weil ich seine Sorgen und Probleme Ernst nehme und ohne ihn meine Welt zusammen brechen würde. Zur Ärztin müssen wir quer durchs Haus laufen. Als ich ihn frage was er denkt und warum
er nicht redet schaut er mich vollkommen hasserfüllt an und sagt: „Ich hasse dich!“ Das hat gesessen. Es tut unfassbar weh und ich frage mich ob ich das Richtige tue.
Vor dem Sprechzimmer der Ärztin zu warten kommt mir wie eine Ewigkeit vor bis die junge Frau plötzlich die Türe öffnet. Sie ist allein. Ich frage sofort wo mein Kind ist. Er ist zur anderen Tür
raus und wartet dort. Ich muss mich unfassbar zusammenreißen nicht in Tränen auszubrechen als ich mich zu der Ärztin an den Tisch setze. Ihre Worte brennen sich ein: „Dem Marc geht es gerade sehr
schlecht, er möchte gerne hier bleiben.“ Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr zurück halten. Es fühlt sich an als würde ich zusammen brechen, gut das ich schon sitze. Eine Weile spreche nun ich
mit der Ärztin, über mein Kind, aber auch darüber wie es mir dabei geht. Sie ist wirklich großartig. Sie gehört wohl zu diesen Personen die es einem wirklich leicht machen zu reden. Bevor sie
mein Kind wieder rein holt wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich versuche stark zu sein, für ihn. Danach zeigt sie uns die Station. Kinder von 6-13 Jahren können hier aufgenommen werden,
alles ist hell, bunt und freundlich. In einem Moment den ich mit meinem Kind alleine habe frage ich noch einmal ob er wirklich bleiben will. Er sagt ja.
Als ich im Auto sitze breche ich erneut zusammen. Meine Welt wird schwarz in diesem Moment. So viele Gedanken und jeder alleine tut unerträglich weh. Es ist furchtbar für eine Mutter zu hören das
ihr Kind nicht nach Hause kommen möchte. Es ist furchtbar für eine Mutter zu wissen das ihr Kind an Suizid gedacht hat. Es ist furchtbar zu wissen welches unerträgliche Leid mein Kind gerade
fühlen muss um diese Gedanken zu entwickeln, denn all das habe ich selber schon durchgemacht.